Von der diesjährigen Deutschen Meisterschaft der Behinderten in den Wettkampfklassen 6-10 und AB (Übersicht Einteilung) im hessischen Bruchköbel (11./12.4.2019) kehrten die Para-Tischtennisspieler aus Mecklenburg-Vorpommern, namentlich René Graumann, Jason Hoffmann, Mario Haack (alle Süd) und Jonathan Böhmker (Lübzer SV), mit zwei Medaillen zurück – alle beide gewannen Süd-Akteure darunter Renés Gold-Coup, der bis in die frühen Sonntagmorgenstunden (4 Uhr) gefeiert wurde. Zu Recht!
Die erste Plakette für Süd gewann Jason Hoffmann mit seinem Partner Rüdiger Goetz aus Schleswig-Holstein. Das Duo wurde erst im Halbfinale der Wettkampfklasse 9 gestoppt. „Wir haben super harmoniert und gingen sehr optimistisch ins Halbfinale“, meinte Jason. „Bis zur Schlägerkontrolle“, wo Goetz‘ Schläger durchfiel (zu hohe Ausdünstungswerte). Jason gab noch mehr Hintergrundwissen preis: „Der Schläger wurde in einem Tischtennisladen geklebt, der den falschen Kleber benutzt hatte. Der Besitzer des Ladens hat sich schon entschuldigt und den Fehler auf seine Kappe genommen.“ Mit dem Ersatzschläger konnte die vorige spielerische Harmonie von Hoffmann/Goetz nicht mehr erreicht werden. Sie verloren trotz Satzführung ein enges Spiel gegen Jörg Schneider / Tobias Stiefel (Hessen / Nordrhein-Westfalen) mit 1:3 (5, -10, -2, -9). „Wir hätten aber das Turnier gewinnen können“, saß der Stachel der Enttäuschung bei Jason ziemlich tief. Im Einzel lief es für ihn, wie für die anderen MV-Starter Mario Haack (WK 6, TSV Rostock Süd) und Jonathan Böhmker (WK 7, Lübzer SV) nicht rund. Nur Haack überstand die Vorrunde, schied aber im ersten K.o.-Spiel (Achtelfinale) aus. In der offenen Klasse, wo alle DM-Teilnehmer unabhängig von ihrer Behinderung gegeneinander spielen, kam Jason von allen am weitesten. Erst gegen den späteren Sieger David Korn aus Baden-Württemberg (0:3; -4,-8,-8) war im Achtelfinale Schluss. Mario und René blieben in der Runde der letzten 64 hängen.
Den Vogel schoss aber eindeutig René ab, der im Einzel der Wettkampfklasse AB (Allgemeine Behinderung ohne Einstufungsmöglichkeit) das Turnier seines Lebens spielte, „zumindest am zweiten Tag“, wie René offen und ehrlich meinte. Die Vorrunde beendete der gebürtige Anklamer, seit 2017 im Behindertensportbereich in Süd-Diensten, ohne zu glänzen als Zweiter. „Nachdem ich den ersten Tag eine sehr schlechte Form erwischte, war nicht daran zu denken überhaupt so weit zu kommen.“ So hörte sich René nach der Vorrunde (Freitag) an: „Ich hatte mal wieder eine schwere Gruppe mit dem Deutschen Meister und meinem Doppelpartner – alles morgens um 9.00 Uhr. Da bin ich noch nicht in der Lage, meine Höchstform abzurufen.“ Zum Glück wusste sich René zu helfen, verrät es hier aber nicht. :-)
Die dicken Brocken kamen in der K.o.-Runde, beginnend am Samstagmorgen. Und, widererwartend kam der René ins Rollen. Erst musste der Hesse Gerd Freiling (3:1), Dauer-Abonnement auf die Podestränge bei den nationalen Titelkämpfen, die Segel streichen. Im Halbfinale ließ er Heiko Müller, amtierender Ü40-Champion, keine Chance (3:0) ehe dann im Finale der hohe Favorit, Titelverteidiger und bis dahin ohne Satzverlust spielende Mika Winnen von der VSG Gelsenkirchen wartete. Beide hatten Respekt voreinander. Ein Vorteil für René? „Stimmt. Gegen Mika habe ich noch nie spielen müssen. Hatte großen Respekt vor ihm, aber er auch vor mir“, gab René zu. Das Spiel war offen und spätestens nach dem ersten Satzgewinn glaubte das einstige Fußballtalent an seine Titelchance. René legte vor (11:5), Mika aber nach (11:5, 11:8) ehe René den Satzausgleich per 12:10 im vierten Satz herstellte. Letzter Satz, also. Und es lief gut für René, der 8:3 führte (Anm.: Der nicht-veröffentlichte Videobeweis widersprach hier René – er führte „nur“ 8:4.). Deutlich? Denkste! Nicht deutlich genug, um ein schnelles Ende zu bekommen. Im Gegenteil. Das Titelmatch zog sich, genau wie es sich der gern gesehene Zuschauer wünscht, noch eine Weile hin. Ein langer Atem und gute Nerven waren gefragt. Schluss ist frühestens beim 11. Punkt. Das bewies Champion Mika eindrucksvoll, holte Punkt für Punkt auf. Dramatik und Anspannung stiegen mit jedem Ballwechsel rapide an – bei beiden Finalisten. Bei 8:8 nahm René seine Auszeit. „Eigentlich zu spät“, gab er später zu. Aber sie half. Vorerst.
Der Linkshänder aus unserer Hamburger Außenstelle ging mit 9:8 in Front. Winnen konterte, führte dann selbst mit 10:9 – bei eigenem Aufschlag. Matchball Mika! René haderte lautstark, drehte einen Kreis nach dem anderen, aber fand die Konzentration wieder. Erstes Chapeau! „Ich wusste, dass ich ruhig, aber aggressiv spielen muss“, verriet er seinen Matchplan, der auch in dieser alles entscheidenden Phase greifen musste – und sollte. Denn mit zwei Rückhand-Schüssen wehrte der Wahl-Hamburger, der in der Millionenmetropole seit 2013 lebt, nicht nur Mika Winnens Matchball ab, sondern holt sich selbst seinen ersten. Die Faust kam, Ur-Schreie auch. Die Energie war spürbar. Zweites Chapeau! René setzte alles auf eine Karte, umlief die Rückhand, zog einen Vorhand-Topspin diagonal. Punkt Graumann. Sensation war perfekt. Der König war besiegt. Es lebe der König. Drittes Chapeau! René Graumann krönte sich zum ersten Deutsche Meister im Einzel für den TSV Rostock Süd überhaupt (Anm.: Mitte der 90er gewannen Süds Schülerinnen und später Mädchen den Deutschen Mannschaftsmeistertitel fünfmal in Folge) und Mika? „Sehr gut gespielt“, gratuliert der geschlagene Champion fair.
„Langsam hab ich das realisiert“, sagt René schüttelt trotzdem ungläubig den Kopf „Das ist ein richtig schönes Gefühl“, sprudelt die Freude über seinen „größten Erfolg“ noch Tage danach heraus. „Da hat er uns ja was eingebrockt. Jetzt muss ich ihn immer mit Deutscher Meister ansprechen“, scherzt Spartenleiter Ulrich Creuznacher und hebt hervor: „Das ist der größte Erfolg eines Para-Sportlers in ganz Mecklenburg-Vorpommern.“
Renés Erfolg hatte zwar einen langen Anlauf, kam aber nicht von ungefähr. Seit, 2014 regelmäßig und erfolgreich bei den Deutschen Meisterschaften der Behinderten dabei (4x Bronze im Doppel, 1x Bronze im Einzel), spielte er auch immer sein Talent aus früheren Tage aus. Er schwört noch heute auf seinen ersten Trainer in Anklam, Volker Berkhahn (69). Früh sammelte der gelernte Baufacharbeiter Kreis- und Bezirksmeistertitel wie andere Briefmarken, setzte sich im Leistungszentrum (Prenzlau) durch und nahm an vielen DDR-Meisterschaften teil.
Damals wie heute beschreibt sich der heute 49-Jährige als „fair, emotional und ehrgeizig.“ „Er ist ein Tischtennis-Verrückter – im positiven Sinne“, ergänzt sein Kumpel Jason, seit 2018 ebenfalls beim TSV Süd. Der plaudert aus dem offenen Nähkästchen: „Tischtennis nimmt bei René eine sehr zentrale Rolle in seinem Leben ein. Das sieht man daran, dass er neben der Punktspielserie auch noch eine Betriebsportserie spielt und sich dann noch fast jedes Wochenende auf einem Turnier wiederfindet.“ Oder kurz gesagt, Jason? „Es wäre eine Katastrophe, wenn René kein Tischtennis mehr spielen könnte.“ Und Uli stimmt zu: „Das merkt man sofort, wenn man mit ihm spricht.“
Den Titel „gönnt ihm jeder“, so Jason, mit René seit 2010 befreundet – auch außerhalb der Box. Das war noch vor der Kopf-OP, der er sich 2011 unterziehen musste und die sein Leben quasi auf den Kopf stellte. „Ich war ein Frühchen, hatte immer einen starken Druck im Kopf. Die Augen standen weit heraus“, erzählt das jüngste von drei Geschwistern. Die OP konnte das beheben, aber etwas ging schief. „Seitdem kann ich Entfernungen schlecht einschätzen und auf meiner linken Seite sind die Nerven gestört“, beschreibt René seine Behinderung. Dass das „als Linkshänder ziemlich blöd“ ist, leuchtet ein. Ein Umlernen auf rechts kam für früheren Fußballer, der 1981 mit 11 Jahren zum Tischtennis kam, „weil ich beim Fußball zu oft invalidenreif gefoult wurde“, nicht infrage.
„Die Umstellung, nicht nur im Tischtennis, war nach der OP schwierig, aber mittlerweile habe ich meinen Weg gefunden“ – und seit Mitte 2017 auch eine neue sportliche Heimat beim TSV Rostock Süd. Seiner damaligen Ehefrau gelang das nicht. Sie trennte sich, nahm die Kinder mit. „René suchte einen neuen Verein, der ihn im Behindertensportbereich besser unterstützen konnte und wollte und rief mich an“, erzählt Uli anekdotenreif vom Beginn der gemeinsamen Zusammenarbeit. Bei der „Vermittlung“ half sein alter Kumpel aus Anklamer Tagen, Steffen Brüsch, der sich im Para-Tischtennis bestens auskennt und Renés Vorhaben unterstützte. Dass sich René und Uli seither noch nie gesehen haben, „sei kein Problem“, so der TSV-Chef weiter, der sich aber schon sehr darauf freut, bei der kommenden Vereinsmeisterschaft am 22.6.2019 „einen echten Deutschen Meister begrüßen und ansagen zu dürfen.“
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Text: Ulrich Creuznacher
Titelfoto: René Graumann (privat)
Beitragsfotos: Heiko Müller, Mario Haack